Ein Gastbeitrag von Veronika Gäng
Ankommen.
Wer kennt sie nicht? Die kleinen Zettelchen an den Teebeuteln mit einem Spruch für den Tag. Wie oft kamen mir schon diese Weissagungen für ein gelungenes Leben (so hat man den Eindruck) banal, wenn nicht sogar aufdringlich vor. „Das weiß ich doch.“, denke ich, wenn ich mal wieder eine dieser Plattitüden lese, die mir mein Leben erklären wollen, und werfe sie samt Teebeutel in den Müll.
Nun ja, ich muss zugeben, zu mancher Zeit sah es auch anders aus, da folgte einer treffenden Weisung mein eigenes Stoßgebet gleich hinterher: „Dein wahres Wesen ist Vertrauen“ – „Bitte, Herr, lass das wahr sein!“ Diesmal nicht ab in den Müll, sondern zelebrierend auf die Rückseite meines Handys geklebt.
Aber nun endlich zur Sache. Was soll das Ganze? Vor Weihnachten kündigte ich euphorisch meinem Deutschkurs die neue Unterrichtseinheit nach den Ferien an. „Dann starten wir endlich mit Lyrik!“, jubelte ich und strahlte in skeptisch irritierte Gesichter. Lyrik? Gedichte? Diese kleine, kurze Form an Texten, die einem stets ein gewisses Unbehagen bescheren, da man nur irgendwie fühlt, aber noch lange nicht weiß, was das lyrische Ich einem sagen will? So oder so ähnlich mögen manche Gedanken gewesen sein, als ich mit Vorfreude „Frohe Weihnachten“ wünschte.
Dann Januar. Schulstart. Ich muss zugeben, ich war schlecht vorbereitet auf diesen Showdown vor den Halbjahreskonferenzen. Als immer noch blutige Anfängerin im Schul-Business mit einem endlich ernstzunehmenden Deputat von 17 Stunden, inklusive Deutsch eAN, wird mir jetzt erst manches klar, während liebe Kolleg*innen mir aufmunternd milde zulächeln.
Ich ziehe also meinen Einstieg zu Lyrik aus meinem Referendariat aus der Tasche und lerne „Ziehende Landschaft“ von Hilde Domin auswendig, um die Schülerinnen und Schüler mit einem Gedichtvortrag zu überraschen. Beim Probevortrag im Lehrerzimmer scheitere ich kläglich, ich büffle die Pause hindurch nochmal das Gedicht. Schnell schneide ich noch einige kleine Zettelchen zu – denn ich habe da so eine Idee… „Erkennst du, was das ist?“, halte ich einer Kollegin mein raffiniertes Teezettelformat in Pink vor die Nase. „Ein Legobaustein?“ – Kein Kommentar.
Stundenbeginn. Stille. „Ziehende Landschaft. Man muss weggehen können und doch sein wie ein Baum, als bliebe Wurzel im Boden, als zöge die Landschaft und wir ständen fest …“ Meine Schülerinnen und Schüler schauen mich mit großen Augen an, lächeln irritiert und etwas hilflos, als ihre Lehrerin ohne Vorwarnung das Gedicht rezitiert. Nach meinem Vortrag lernt der Kurs das Gedicht auswendig, indem jede*r einen Vers übernimmt. Schon als das gelingt, bin ich selig.
Nach einem kurzen Blick auf das lyrische Ich, was es uns wohl sagen will, zücke ich einen Teebeutel und meine Teespruchzettel. „Jetzt seid ihr dran. Schreibt vier Weisungen auf, die die Aussagen des Gedichts widerspiegeln.“ Zögerlich, bald eifrig erledigen die Schüler*innen den Auftrag. Ich spüre schon das Knistern. Hier entsteht gerade etwas.
Während alle frisch gebackenen Teespruch-Schreiberlinge vertieft sind, sinniere ich über die Verse Hilde Domins. Natürlich ist das kein Zufall, dass mir dieses Gedicht zugefallen ist. Wie häufig ging es in den letzten Jahren um Fortgehen und Ankommen, um Ziehen-lassen und Wurzeln-schlagen. So ist es auch kein Wunder, dass ich kurze Zeit später mit erwartungsvoller Spannung die Sprüche der Schüler*innen einsammle, vorlese und tief berührt bin, von dem, was sie auf glänzende Art und Weise in wenige Worte gefasst haben.
Stundenende. Stille. „Ein Sturm schafft Neues und Stärkeres.“ - „Wenn man genau hinsieht, erkennt man Vertrautes.“ - „Dein Zuhause ist wandelbar.“ … Ich weiß, für manche klingen diese Weisungen banal oder aufdringlich. Aber für mich war sie da, die Sternstunde im neuen Jahr und nichts ist weniger ungewiss, als dass ich gerade in diesem Moment endlich angekommen bin.
Veronika Gäng