Was passiert, wenn wissenschaftliche Prinzipien auf das Unbekannte und Unerklärliche treffen? Diese Frage beschäftigt nicht nur Wissenschaftler, sondern auch viele Menschen, die außergewöhnliche Erlebnisse haben – von Spukerscheinungen bis hin zu unbegreiflichen Phänomenen wie dem Gläserrücken. Walter von Lucadou, ein Pionier auf dem Gebiet der Parapsychologie, widmet sein Leben der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit solchen Erlebnissen.
An der ANGELL Akademie in Freiburg hatten die Schüler*innen der 10. Klasse die seltene Gelegenheit, von Lucadou persönlich zu erleben und mit ihm unter anderem über Themen wie religiöse Sekten und ihre psychologischen Hintergründe zu sprechen. Unter der Leitung von Anita Lemoye nahmen die Schüler*innen in zwei intensiven Schulstunden teil, die Wissenschaft und Übernatürliches miteinander verknüpften.
„Ich begegnete meinem ersten Gespenst im Deutschbuch“, erzählte von Lucadou. Doch dieses erste „Gespenst“ aus einem literarischen Text entfachte eine Leidenschaft. Sie war der Beginn einer langen Reise – einer Reise, die ihn an die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und dem Mystischen führte. Diese Neugier mündete schließlich in eine beeindruckende akademische Laufbahn: Er studierte sowohl Physik als auch Psychologie, promovierte in beiden Fachbereichen und widmete sich der Erforschung grenzwissenschaftlicher Phänomene.
1989 gründete von Lucadou die „Parapsychologische Beratungsstelle“ in Freiburg – die einzige ihrer Art in Deutschland. Hier bietet er Menschen, die außergewöhnliche Phänomene erlebt haben, eine Möglichkeit, ihre Erlebnisse zu hinterfragen und zu verstehen, ohne sie gleich als Einbildung oder übernatürliche Erscheinungen abzustempeln. Dazu gehören verstörende Erlebnisse wie Spuk, Nahtoderfahrungen oder Träume, die sich auf unheimliche Art zu verwirklichen scheinen. "Wem so etwas widerfährt, dessen Weltbild gerät oft aus den Fugen – und es ist nicht leicht, darüber mit anderen Menschen zu sprechen, ohne für verrückt erklärt zu werden. Wir dokumentieren diese Phänomene, versuchen sie mit wissenschaftlichen Methoden zu erklären und helfen Betroffenen, das Erlebte einzuordnen."
Doch was genau fasziniert uns an dem Ungeklärten? Warum zieht es uns immer wieder in die Weiten des Unvorstellbaren? Es sind nicht nur die Rätsel der Welt, es ist auch die Idee, dass in jedem unerklärlichen Phänomen eine neue Wahrheit versteckt sein könnte – eine Wahrheit, die unser gesamtes Verständnis der Welt auf den Kopf stellen könnte. Und was passiert, wenn wir diese Wahrheit finden?
Dies ist eine zentrale Botschaft von Lucadous Arbeit: Während die Welt oft schnell zu wissenschaftlichen oder spirituellen Erklärungen neigt, plädiert er dafür, Betroffene ernst zu nehmen, zuzuhören und vor allem psychologische Hintergründe zu erforschen.
Ein solches Beispiel aus seiner Praxis erläuterte von Lucadou den Schüler*innen im Unterricht: Ein Familienvater suchte seine Beratungsstelle auf, weil seine Frau sich einer religiösen Sekte zugewandt hatte. Die Frau fühlte sich in der Gemeinschaft verstanden, die Sektenführerin wurde als eine Art Prophetin wahrgenommen. Doch erst als sie von sich aus erzählte, dass Mikrofone in den Gemeinschaftsräumen der Sekte an der Decke angebracht waren, begann sie, die Situation in einem anderen Licht zu sehen.
Lucadou erklärte den Schüler*innen, wie psychologische Dynamiken innerhalb von Sekten das Weltbild der Menschen verändern und sie dazu führen können, sich von der Außenwelt abzuschotten. „Diese Gruppen entstehen nicht nur aus einem Glauben an das Übernatürliche“, erklärte er, „sondern oft aus einem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und einer tiefen Sehnsucht nach Orientierung in einer komplexen und unsicheren Welt. Dabei gibt es oft kein RICHTIG oder FALSCH!" Für von Lucadou ist diese Art von Erkenntnis wichtig, denn es geht weniger darum, Menschen ihre Glaubensansichten „auszureden“, sondern vielmehr darum, durch einfühlsames Zuhören und die Möglichkeit zur Reflexion helfend eine positive Veränderung herbeizuführen, wenn es zu Problemen kommt.
Doch die Arbeit von Lucadou umfasst weit mehr als nur die Erklärung von paranormalen Erlebnissen. Ein faszinierendes Thema, das er mit den Schüler*innen behandelte, war das Phänomen der „Gestaltwahrnehmung“. Es erklärt, warum Menschen in Wolken, auf Tapeten oder in Alltagsgegenständen Gesichter oder andere bekannte Formen erkennen. Dieses Phänomen lässt sich mit der Funktionsweise des menschlichen Gehirns erklären: Unser Gehirn ist darauf programmiert, bekannte Muster zu erkennen und sie mit bestehenden mentalen Repräsentationen abzugleichen. Diese Fähigkeit, „Gesichter in Dingen“ zu sehen, ist ein weiteres Beispiel dafür, wie unser Gehirn ständig versucht, Ordnung und Vertrautheit in einer chaotischen Welt zu finden.
Aber auch optische Effekte mit physikalischem Hintergrund führen zu "Geistererscheinungen". Wie z.B.. beim Brockengespenst, bei dem der Schatten des Beobachters durch Nebel oder Wolken verzerrt wird, wodurch es aussieht, als ob ein riesiges Gespenst schwebt, obwohl es sich nur um den eigenen Schatten handelt.
Neben diesen „Fehlern“ in der Wahrnehmung spricht von Lucadou auch über die Theorie der „Irritation der Wirklichkeit“. Er erklärt, dass unerklärliche Phänomene oft eine Erschütterung des gewohnten Weltbildes darstellen – das gewohnte Verständnis der Realität wird in Frage gestellt, was zu Unsicherheit, Angst oder auch Faszination führen kann. Für von Lucadou ist dieser Zustand nicht nur eine Krise, sondern auch eine Möglichkeit, neue Einsichten zu gewinnen.
Was, wenn das Paranormale weniger mit übernatürlichen Kräften zu tun hat als mit den Prozessen in unserem Gehirn? „Phänomene wie das Gläserrücken oder Spukerscheinungen haben nichts mit einem Jenseits zu tun. Vielmehr sind sie Ausdruck von Gruppendynamik und psychologischen Mechanismen“, erklärt von Lucadou. Das Gläserrücken, das viele als ein übernatürliches Ereignis erleben, kann aus seiner Sicht durch unbewusste Muskelbewegungen eines selbstorganisierenden Systems der Gruppe erklärt werden. Ebenso werden Spukphänomene und sogenannte Poltergeister nicht als Geistererscheinungen gedeutet, sondern als psychosomatische Reaktionen, die sich außerhalb des Körpers in der unmittelbaren Umgebung manifestieren. Der Geist des Menschen, so von Lucadou, ist ein komplexes System, das in der Lage ist, die Realität zu „verzerren“, wenn die gewohnten Wahrnehmungsmechanismen gestört sind.
Lucadou erklärte der Klasse außerdem einige zentrale Begriffe der Kognitionspsychologie, die unser Verständnis darüber, wie wir die Welt wahrnehmen und verarbeiten, vertiefen. Ein wesentlicher Begriff ist die „mentale Repräsentation“, die beschreibt, wie unser Gehirn Informationen speichert und verarbeitet. Dabei speichern wir nicht nur Fakten, sondern auch Emotionen und Bedeutungen, die mit bestimmten Erlebnissen verbunden sind. Diese gespeicherten Repräsentationen beeinflussen, wie wir die Welt sehen und interpretieren.
Ein weiterer wichtiger Begriff ist „Embodiment“, die Theorie, dass unsere Gedanken und Wahrnehmungen stark durch unseren Körper beeinflusst werden. Unsere Körperhaltungen und Bewegungen spielen eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Emotionen und kognitiven Prozessen. Schließlich führte Lucadou den weniger bekannten Begriff „Passum“ ein, der sich mit der Frage beschäftigt, wo genau das Bewusstsein verankert ist – im Gehirn, im Körper oder vielleicht in einem komplexen Zusammenspiel von beidem. Diese Konzepte verdeutlichen, wie eng unsere Wahrnehmung, unser Körper und unser Geist miteinander verknüpft sind und wie sie unsere Erfahrungen und unser Verständnis der Welt prägen.
Während der Stunde hatten die Schüler*innen auch viele Fragen zu weiteren Themen wie Déjà-vu-Erlebnissen und der Traumdeutung. Von Lucadou erklärte Déjà-vus als einen „Kurzschluss“ im Gedächtnisprozess, bei dem das Gefühl entsteht, eine Situation schon einmal erlebt zu haben. Dieser Zustand entsteht, wenn das Gehirn zwei ähnliche Eindrücke miteinander verwechselt. Auch die Traumdeutung war ein Thema, das die Schüler*innen beschäftigte, da viele von ihnen eigene, tiefgründige Traumerlebnisse teilten. Von Lucadou erklärte, dass Träume oft unbewusste Ängste und Wünsche widerspiegeln und eine Möglichkeit darstellen, mit inneren Konflikten und unerforschten Emotionen umzugehen. Ein weiteres Thema, das die Schüler*innen ansprach, war die Verbindung zwischen psychischen Erkrankungen und paranormalen Erscheinungen. Von Lucadou beleuchtete, wie psychische Belastungen und traumatische Erfahrungen dazu führen können, dass Menschen anfälliger für das Erleben von Phänomenen werden, die als „paranormal“ gelten. Diese Verbindung zwischen Psychologie und Parapsychologie macht deutlich, wie eng unsere Wahrnehmung und unser emotionaler Zustand mit der Art und Weise verknüpft sind, wie wir die Welt um uns herum verstehen.
Walter von Lucadous Besuch an der ANGELL Akademie war ein einzigartiger Einblick in die Welt der Parapsychologie und zeigte den Schüler*innen auf, wie Wissenschaft und außergewöhnliche Phänomene miteinander in Beziehung stehen können. Seine Arbeit in der Parapsychologischen Beratungsstelle und seine wissenschaftlichen Ansätze bieten eine wertvolle Perspektive, die hilft, Aberglauben zu überwinden und das Unbekannte mit einer offenen, aber kritischen Haltung zu betrachten.
In einer Welt, in der immer mehr Menschen auf der Suche nach Antworten auf das Unerklärliche sind, ist die Arbeit von Lucadou von großer Bedeutung – nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Aufklärungsarbeit in Schulen, wo junge Menschen lernen, wie sie mit den Unsicherheiten und Herausforderungen einer komplexen Welt umgehen können.
Sein Rezept für und gegen die Geister: Verständnis und Aufklärung durch Wissenschaft und Empathie.